Winterfisch
Wallstein Verlag (2011)
192 Seiten
ISBN: 978-3-8353-0843-5
„Gregor Sander, Winterfisch, Erzählungen - ein großartiges Buch!“
Ernst A. Grandits, 3sat, 20.3.2011
Denn so vollkommen unthesenhaft Gregor Sander auch erzählt – aus dem naturgeschichtlichen Zusammenhang seines literarischen Schauplatzes entsteht eine Antithese zum geopolitischen Weltbild des Kalten Krieges, zur Trennung der Ostsee in eine westliche und eine östliche Hemisphäre, die wir instinktiv noch mitdenken. Hier, bei der Lektüre von Winterfisch, vergisst man sie plötzlich. Man empfindet die Verbindung von Kieler Förde und Kurischer Nehrung, von Gotland und Hiddensee, Helsinki und Rostock als größte Selbstverständlichkeit der Welt. Und man glaubt zu verstehen, was mit innerer Wiedervereinigung wirklich gemeint ist.
Ursula März, Die Zeit, 28.7.2011
Das Raffinierte an den Geschichten ist die behutsame und glaubwürdige Beiläufigkeit, mit der aus einer Alltagssituation in wenigen Sätzen ein exaktes Psychogramm oder ein ganzes Zeitpanorama entsteht ... Die Dringlichkeit, mit der Gregor Sander die Zeitschichten miteinander verzahnt und das Kontinuum unter den Brüchen sichtbar macht, erinnert in ihrer psychologischen und historischen Akribie an den detailbesessenen Blick von Uwe Johnson.
Nicole Henneberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.7.2011
Es gibt Brüche in Beziehungen, die erst nach und nach fühlbar werden, alte Bekannte, die plötzlich wieder auftauchen, nicht selten sind es auch Orte, die in ihrer Fremdheit dafür sorgen, dass die Figuren sich plötzlich selbst fremd werden. Die Bedeutung dieser Momente holt Sander über Rückblenden in die Vergangenheit der Figuren ein. Am stärksten ist er immer dann, wenn er mehrere Geschichten ineinander schneidet... Er führt den Leser in die Vergangenheit und wieder zurück, holt ihn in die Städte, auf die Inseln, ans Meer. Und zeigt ihm unterwegs jene Plätze, an denen das Gefüge der Wirklichkeit sich zu lockern scheint.
Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 8.9.2011
"Winterfisch" ist eine stille dreistimmige Ode an die abwesende Frau. Das Meer wird dabei zum Platzhalter für ihre stumme Sehnsucht (...) Hier wie in den anderen Texten aus Gregor Sanders Prosaband "Winterfisch" steht für die kleine Ewigkeit der Erzählung die Zeit still. Typisch für seine Geschichten vom Meer: Ganz alltägliche Ereignisse werden wie in Harz eingefangen. Dieser Bernsteineffekt verleiht allem, was geschieht, besondere existenzielle Bedeutsamkeit. Vor dem Meer, so scheint es, sieht man klarer.
Michaela Schmitz, Büchermarkt, Deutschlandfunk, 4.5.2011
Ein hervorragender Erzählband, der einem, käme er aus Amerika, aus der Hand gerissen würde. Manche großen biographischen Stoffe erschließt man sich aus zwei Nebensätzen, es wird spröde und lakonisch erzählt ... Ein ganz neuer geopolitischer und poetischer Raum tut sich auf.
Ursula März, Deutschlandradio Kultur, 12.5.2011
Die wahren Katastrophen sind wort- und lautlos, und sie sind es vor allem dann, wenn sie zurückgehen auf Verwerfungen des Kalten Krieges ... Die Zeitgeschichte, die unaufhörlich in die Gegenwart hineindrängt, kann eine Fussfessel sein, das zeigt Gregor Sander in seinen Geschichten auf eindrückliche Weise.
Martin Zingg, NZZ, 9.6.2011
Ob in Deutschland, Polen, Russland, Litauen, die Ostsee, für die Sander immer wieder wunderschöne Bilder findet, ist stets präsent. Genauso wie die Hoffnungen und Sehnsüchte der Protagonisten, am Leben noch etwas zu ändern.
Oliver Seppelfricke, Saarländischer Rundfunk, 16.4.2011
Die Hoffnung stirbt zuletzt – auch in Gregor Sanders Geschichten, die existenzielle Fragen aufwerfen und dank ihrer konkreten Verankerung im Alltag zutiefst menschlich sind.
Sandra Leis, NZZ am Sonntag, 26.06.2011
Dieser Erzähler vom Jahrgang 1968 ist bündig in Sinn und Form. Als Mecklenburger hat er eine feine Nase für falsche Pracht. Seine Genauigkeit bewirkt intensive Gegenwärtigkeit.
Jürgen Verdofsky, Badische Zeitung, 04.05.2011
In präzis gezeichneten Porträts kommen wir alternden Seebären, Künstlern, Illusionisten und Freigeistern empfindlich nahe, etwa den beiden Männern, die auf einen Segeltörn gehen und im Gleichmut mit den Wellen von kleinen und großen Lebensgeheimnissen erzählen. Auch wenn das Buch »Winterfisch« heißt: Es wird einem beim Lesen warm ums Herz.
Stefan Hauck/Alice Werner, Börsenblatt, 01.06.2011
Der Schriftsteller als behutsamer Konservator. Die jüngere Geschichte Deutschlands – aufgehoben in individuellen Geschichten: In seinem Band "Winterfisch" erzählt Gregor Sander skrupulös von gewaltsam verbogenen Biografien.
Frank Schäfer, taz, 30.07.2011
Gregor Sander, der für eine Erzählung dieses Buches beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde, ist ein überaus genauer Darsteller von Grautönen. Traurige Ambivalenzen, verschlucktes Aufbegehren, in kleinen Gesten geronnene Konflikte - das ist sein Metier, das er perfekt beherrscht. Und die Gestaltung dieses eigenartigen Menschenschlags von der Ostseeküste, vom Rand dieses fast gänzlich undramatischen Meeres.
Harald Jähner, Berliner Zeitung, 21.07.2011
Kein Wort ist zuviel. Sander schreibt präzise, klar, ohne Schnörkel.
Raphael Zehnder, DRS2, 19.07.2011
Zweiter Weltkrieg, DDR, Stasi, Herbst ´89, aber auch ganz gewöhnliche Lebensumbrüche verbindet der in Berlin lebende Autor im fließenden, klaren Erzählen zu makellosen, poetischen Geschichten.
Annerose Kirchner, Ostthüringer Zeitung, 04.06.2011
Winterfisch ist das ideale Buch für den Strand, auch wenn es momentan vielleicht noch ein bisschen zu kalt ist. Neun nicht zu lange Geschichten, die toll erzählt sind und von ihren einzigartigen Figuren leben. Dazwischen kann man den Blick immer wieder über die Ostsee wandern lassen und nachvollziehen, warum sie sich so perfekt als Kulisse eignet.
Rostock heute, 27.03.2011
Das ist so tiefgründig wie unterhaltsam, so entlarvend wie erkenntnisreich, alles in allem: nichts weniger als großartige Literatur.
Johannes Bruggaier, Kreiszeitung Syke, 23.03.2011
Ob flaschengrün oder nachtschwarz jede der Erzählungen trifft den Leser. Ohne Umwege, pointiert, immer genau. Die neun Geschichten böten auch Stoff für ganze Romane, doch das Talent des Autors zeigt sich in den kompakten Erzählungen. Komprimiert und mit wenigen Worten gelingt ihm, was in der deutschen Literatur selten geworden ist: mit ruhigem Tonfall beschwört er Schicksale herauf, die den Leser auch nach dem Ende des Buches nicht mehr loslassen.
Kai Budler, StadtRadio Göttingen, 31.03.2011
Der Berliner Gregor Sander erzählt in »Winterfisch«, wie Männerbiografien an der deutschen Zeitgeschichte und an der Zeit zerbrechen - eine geradezu makellose Geschichte, die lebte und atmetet und roch, einen einfing wie kein anderer Text.
Elmar Krekeler über den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2009
Ernst A. Grandits, 3sat, 20.3.2011
Denn so vollkommen unthesenhaft Gregor Sander auch erzählt – aus dem naturgeschichtlichen Zusammenhang seines literarischen Schauplatzes entsteht eine Antithese zum geopolitischen Weltbild des Kalten Krieges, zur Trennung der Ostsee in eine westliche und eine östliche Hemisphäre, die wir instinktiv noch mitdenken. Hier, bei der Lektüre von Winterfisch, vergisst man sie plötzlich. Man empfindet die Verbindung von Kieler Förde und Kurischer Nehrung, von Gotland und Hiddensee, Helsinki und Rostock als größte Selbstverständlichkeit der Welt. Und man glaubt zu verstehen, was mit innerer Wiedervereinigung wirklich gemeint ist.
Ursula März, Die Zeit, 28.7.2011
Das Raffinierte an den Geschichten ist die behutsame und glaubwürdige Beiläufigkeit, mit der aus einer Alltagssituation in wenigen Sätzen ein exaktes Psychogramm oder ein ganzes Zeitpanorama entsteht ... Die Dringlichkeit, mit der Gregor Sander die Zeitschichten miteinander verzahnt und das Kontinuum unter den Brüchen sichtbar macht, erinnert in ihrer psychologischen und historischen Akribie an den detailbesessenen Blick von Uwe Johnson.
Nicole Henneberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.7.2011
Es gibt Brüche in Beziehungen, die erst nach und nach fühlbar werden, alte Bekannte, die plötzlich wieder auftauchen, nicht selten sind es auch Orte, die in ihrer Fremdheit dafür sorgen, dass die Figuren sich plötzlich selbst fremd werden. Die Bedeutung dieser Momente holt Sander über Rückblenden in die Vergangenheit der Figuren ein. Am stärksten ist er immer dann, wenn er mehrere Geschichten ineinander schneidet... Er führt den Leser in die Vergangenheit und wieder zurück, holt ihn in die Städte, auf die Inseln, ans Meer. Und zeigt ihm unterwegs jene Plätze, an denen das Gefüge der Wirklichkeit sich zu lockern scheint.
Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 8.9.2011
"Winterfisch" ist eine stille dreistimmige Ode an die abwesende Frau. Das Meer wird dabei zum Platzhalter für ihre stumme Sehnsucht (...) Hier wie in den anderen Texten aus Gregor Sanders Prosaband "Winterfisch" steht für die kleine Ewigkeit der Erzählung die Zeit still. Typisch für seine Geschichten vom Meer: Ganz alltägliche Ereignisse werden wie in Harz eingefangen. Dieser Bernsteineffekt verleiht allem, was geschieht, besondere existenzielle Bedeutsamkeit. Vor dem Meer, so scheint es, sieht man klarer.
Michaela Schmitz, Büchermarkt, Deutschlandfunk, 4.5.2011
Ein hervorragender Erzählband, der einem, käme er aus Amerika, aus der Hand gerissen würde. Manche großen biographischen Stoffe erschließt man sich aus zwei Nebensätzen, es wird spröde und lakonisch erzählt ... Ein ganz neuer geopolitischer und poetischer Raum tut sich auf.
Ursula März, Deutschlandradio Kultur, 12.5.2011
Die wahren Katastrophen sind wort- und lautlos, und sie sind es vor allem dann, wenn sie zurückgehen auf Verwerfungen des Kalten Krieges ... Die Zeitgeschichte, die unaufhörlich in die Gegenwart hineindrängt, kann eine Fussfessel sein, das zeigt Gregor Sander in seinen Geschichten auf eindrückliche Weise.
Martin Zingg, NZZ, 9.6.2011
Ob in Deutschland, Polen, Russland, Litauen, die Ostsee, für die Sander immer wieder wunderschöne Bilder findet, ist stets präsent. Genauso wie die Hoffnungen und Sehnsüchte der Protagonisten, am Leben noch etwas zu ändern.
Oliver Seppelfricke, Saarländischer Rundfunk, 16.4.2011
Die Hoffnung stirbt zuletzt – auch in Gregor Sanders Geschichten, die existenzielle Fragen aufwerfen und dank ihrer konkreten Verankerung im Alltag zutiefst menschlich sind.
Sandra Leis, NZZ am Sonntag, 26.06.2011
Dieser Erzähler vom Jahrgang 1968 ist bündig in Sinn und Form. Als Mecklenburger hat er eine feine Nase für falsche Pracht. Seine Genauigkeit bewirkt intensive Gegenwärtigkeit.
Jürgen Verdofsky, Badische Zeitung, 04.05.2011
In präzis gezeichneten Porträts kommen wir alternden Seebären, Künstlern, Illusionisten und Freigeistern empfindlich nahe, etwa den beiden Männern, die auf einen Segeltörn gehen und im Gleichmut mit den Wellen von kleinen und großen Lebensgeheimnissen erzählen. Auch wenn das Buch »Winterfisch« heißt: Es wird einem beim Lesen warm ums Herz.
Stefan Hauck/Alice Werner, Börsenblatt, 01.06.2011
Der Schriftsteller als behutsamer Konservator. Die jüngere Geschichte Deutschlands – aufgehoben in individuellen Geschichten: In seinem Band "Winterfisch" erzählt Gregor Sander skrupulös von gewaltsam verbogenen Biografien.
Frank Schäfer, taz, 30.07.2011
Gregor Sander, der für eine Erzählung dieses Buches beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet wurde, ist ein überaus genauer Darsteller von Grautönen. Traurige Ambivalenzen, verschlucktes Aufbegehren, in kleinen Gesten geronnene Konflikte - das ist sein Metier, das er perfekt beherrscht. Und die Gestaltung dieses eigenartigen Menschenschlags von der Ostseeküste, vom Rand dieses fast gänzlich undramatischen Meeres.
Harald Jähner, Berliner Zeitung, 21.07.2011
Kein Wort ist zuviel. Sander schreibt präzise, klar, ohne Schnörkel.
Raphael Zehnder, DRS2, 19.07.2011
Zweiter Weltkrieg, DDR, Stasi, Herbst ´89, aber auch ganz gewöhnliche Lebensumbrüche verbindet der in Berlin lebende Autor im fließenden, klaren Erzählen zu makellosen, poetischen Geschichten.
Annerose Kirchner, Ostthüringer Zeitung, 04.06.2011
Winterfisch ist das ideale Buch für den Strand, auch wenn es momentan vielleicht noch ein bisschen zu kalt ist. Neun nicht zu lange Geschichten, die toll erzählt sind und von ihren einzigartigen Figuren leben. Dazwischen kann man den Blick immer wieder über die Ostsee wandern lassen und nachvollziehen, warum sie sich so perfekt als Kulisse eignet.
Rostock heute, 27.03.2011
Das ist so tiefgründig wie unterhaltsam, so entlarvend wie erkenntnisreich, alles in allem: nichts weniger als großartige Literatur.
Johannes Bruggaier, Kreiszeitung Syke, 23.03.2011
Ob flaschengrün oder nachtschwarz jede der Erzählungen trifft den Leser. Ohne Umwege, pointiert, immer genau. Die neun Geschichten böten auch Stoff für ganze Romane, doch das Talent des Autors zeigt sich in den kompakten Erzählungen. Komprimiert und mit wenigen Worten gelingt ihm, was in der deutschen Literatur selten geworden ist: mit ruhigem Tonfall beschwört er Schicksale herauf, die den Leser auch nach dem Ende des Buches nicht mehr loslassen.
Kai Budler, StadtRadio Göttingen, 31.03.2011
Der Berliner Gregor Sander erzählt in »Winterfisch«, wie Männerbiografien an der deutschen Zeitgeschichte und an der Zeit zerbrechen - eine geradezu makellose Geschichte, die lebte und atmetet und roch, einen einfing wie kein anderer Text.
Elmar Krekeler über den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2009
Leseprobe: Titelgeschichte aus dem Erzählungsband
"Winterfisch"
Es ist Morgen, halb fünf und schon heller als ein Zwielicht, mehr als eine Dämmerung, und doch noch nicht Tag. Ich habe gut geschlafen auf der Rückbank meines Autos und es erscheint mir unglaublich, dass ich hier stehe. In der Kanalstraße in Kiel-Holtenau. Der Wecker meines Handys hat geklingelt, ich habe mir im Halbschlaf die Schuhe angezogen und bin raus in diesen Morgen. Völlig allein, kein Mensch zu sehen. Die Häuser stehen noch dunkel. Vor mir liegen ein paar Segeljachten an einem Steg, und weiter hinten, wenn man über den Kanal hinwegsieht, glitzert die Förde und in Kiel brennen noch die Laternen der Nacht. Die Blätter der Ahornbäume über mir dämpfen das frühe Licht noch einmal, aber ich bin mir sicher, dass es ein schöner Tag wird. Ein Sommertag mit großer Hitze. Ein Tag wie gestern, als ein Flimmern über den Feldern lag, die Halme honiggelb waren vor Trockenheit und ich die Autobahn verließ und lieber die Landstraße nahm bis nach Kiel. Ich fuhr am Zentrum der Stadt vorbei und dann über die Brücke auf die andere Seite über den Nord-Ostsee-Kanal, der tief unten liegt, und es hatte etwas von Amerika, hier rüber zu fahren, etwas vom Hudson River, nur dass der Fluss dort unten eben gegraben wurde. Ein Auto fährt langsam die Kanalstraße entlang. Ein weinroter BMW-Kombi. Der Mann, der aussteigt, trägt eine blaue Latzhose. Er kommt auf mich zu und ich denke, dass ein Fischer doch keinen BMW fährt. »Sind Sie der Sohn von meinem Macker?« »Ihrem Macker?« »Na, Walter eben.« Ich gebe ihm die Hand und sage: »Bin ich. Das heißt, nicht sein Sohn.« »Was denn dann?«, fragt der Fischer und lacht. Er wirkt schon sehr wach, das Gesicht ist eben und die Haare stehen wie eine graue Bürste vom Kopf ab. Seine Züge sind fein, und er sieht nicht aus wie jemand, der zur See fährt. Als würde er wissen, was ich denke, und als wollte er das Gegenteil beweisen, kramt er eine Pfeife aus der Tasche und eine kleine grüne Plastiktüte mit Tabak. Er stopft die Pfeife, zündet sie an und sieht immer noch nicht aus, wie ich mir einen vorgestellt habe, der die Tage allein auf dem Meer verbringt. Wir stehen beide unbeholfen da und ich deute zum Kanal, wo direkt vor der Schleuse ein Fischkutter vertäut ist. »Ihr Schiff?«, frage ich und das sieht genau aus wie ein Fischkutter. Weiß, mit einer stählernen Reling, einem Führerhaus, und das Steuerrad ist aus Holz. Auf so was war ich vorbereitet. »Ja, meins, aber das nehmen wir heute nicht. Damit fahr ich aufs Meer. Wenn Heringszeit ist oder mal auf Dorsch. Heut nehmen wir den Lütten. Der liegt im Hafen.« Er zeigt mit dem Kopf auf die Schleuseninsel mitten im Kanal und ich nicke und frage mich, wo wir dann fischen werden. »Vielleicht hat Walter verpennt. Das passiert ihm hin und wieder. Öfters in letzter Zeit sogar«, sagt der Fischer und dass er Josef Neuer heißt. Ich hätte gern einen Kaffee. Für einen kurzen Moment möchte ich in meinem Leben sitzen, in meiner Küche, und nicht neben Josef Neuer stehen. Walter wollte gestern noch, dass ich bei ihm übernachte. »Hab oft genug auf dich aufgepasst, damals.« Aber mir war das zuviel nach diesem gemeinsamen Abend fast zwanzig Jahre später, und so habe ich etwas von einem Hotel behauptet und war froh, gehen zu können. »Verschlaf nicht, mein Jung«, rief er mir hinterher, an die Tür gelehnt, angetrunken und achtzig Jahre alt. Ein merkwürdiges Bild für mich, der ich eigentlich gar keines mehr von ihm hatte. »Komm, wir gehen. Walter war ja schon oft mit mir draußen«, sagt Josef Neuer und klopft die Pfeife am Hacken seines Gummistiefels aus. Wir fahren mit seinem Auto durch das Tor auf der Schleuseninsel. Er zeigt einen Ausweis hoch und sagt, ohne mich anzusehen: »Wegen 11. September«, so als würde das alles erklären und auch Fischer in Kiel-Holtenau müssten sich beim CIA anmelden, wenn sie einen Hafen betreten. Wir gehen auf die schmale Eisenbrücke über der Schleuse, und das Wasser des von Metallwänden begrenzten Beckens ist voller Quallen. Wie das Sago in der kalten Kirschensuppe, die meine Mutter an Sommertagen kochte, drängen sie dicht an dicht. »Der Wind kommt von Osten«, sagt Josef Neuer. »Das drückt die Viecher dann in die Schleuse und in den Kanal. Da fängt man kaum Fische bei dem Wetter. Das hühnert schon seit Tagen so rum. Alles voll mit Algen und Quallen.« Auf einer Wiese steht ein kleiner roter Bauwagen aus Holz und durch das Fenster an seiner Rückseite sieht man Netze und Bojen bis unter die Decke gestapelt. Neuer öffnet das Vorhängeschloss und reicht mir eine orange Ölhose und Gummistiefel. »Müsste passen. Die sind von meiner Frau und groß war die nicht.« War hat er gesagt, und was macht seine Frau denn an Bord? Das bringt doch Unglück?, denke ich und dann gehen wir zu einem kleinen flachen Boot mit Außenbordmotor und fahren los, weg von der Schleuse, hinein in den Kanal. An Lagerhallen vorbei, großen Betonsilos und einer Werft. Vor uns spannt sich hoch die Autobahnbrücke. Vier Frachter hintereinander kommen uns auf der anderen Kanalseite entgegen, langsam wie riesige Tiere. Fast lautlos sind sie, nur unser kleiner Motor ist zu hören. Der Himmel ist taubenblau und die Silhouetten der Bäume am Ufer heben sich ab gegen den gelblich roten Streifen Licht am Horizont. »Du bist ja noch da«, hatte Walter gesagt, als er mich vor ein paar Tagen in Hamburg anrief, in der Kanzlei. Es war früher Abend und für mich nichts Besonderes, noch am Schreibtisch zu sitzen und zu arbeiten. Die Sekretärin war gegangen und hatte wie immer das Telefon direkt auf mich durchgestellt. Der Fall vor mir war einfach und die Aktenlage klar, als das Telefon klingelte und Walter diesen Satz sagte ohne jede Begrüßung. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich jemanden erwartet hatte, ob ich mich wunderte, dass das Telefon klingelte, oder selbstverständlich danach griff, ohne nachzudenken. Normalerweise rief nur Sarah um diese Zeit an und wir redeten kurz. Und wenn es bei mir später wurde, dann gab sie mir noch die Kinder, damit ich ihnen Gute Nacht sagen konnte. Aber Sarah rief nicht mehr an, seit Wochen schon nicht mehr. Ich erkannte ihn nicht an der Stimme. Vielleicht ist das auch nicht möglich nach so einer langen Zeit. Walter redete mit mir, als müsste ich wissen, wer er sei, und hätte eigentlich auf seinen Anruf gewartet. »Das ist lange her«, hörte ich mich irgendwann sagen, und ich sah ihn vor mir in Güstrow. Wie er seinen gerade erst in Hamburg gekauften hellblauen Ford Escort belud mit Kisten und ich daneben stand und ihm zusah. »Warum gehst du jetzt?«, hatte ich ihn damals gefragt und er hatte geantwortet: »Das verstehst du vermutlich nicht.« »Es ist doch vorbei«, sagte ich. »Du kannst fahren, wohin du willst und sooft du willst.« Vor seiner Garage lag der Garten farblos und ohne jedes Blatt. Das Jahr ging zu Ende, und ich glaube, mich verwirrte besonders, dass er so kurz vor Weihnachten ging, und so, als hätte er keine Zeit mehr. Walter war sechzig damals. Ein alter Mann für mich, der selber dreizehn war. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt, ein halbes Jahr vorher in Güstrow. Meine Mutter war mit mir dorthin gezogen, direkt nach der Zeugnisausgabe, so wie sie es jedes Mal gemacht hatte. Wir hatten drei Jahre lang in Leipzig gewohnt, und nun wollte sie es mit Mecklenburg versuchen. »Da ist es schön ruhig. Wir haben den Inselsee vor der Tür. Das Krankenhaus hat mir eine Anderthalb-Raum-Wohnung besorgt. Und du kannst dir gleich im Sommer neue Freunde suchen.« Sie versuchte mich aufzumuntern, aber das brauchte sie gar nicht. Ich war froh, aus Leipzig wegzukommen. Ich hatte keine Freunde, jedenfalls niemanden, den ich wirklich vermissen würde, und das einzige, was ich ihr übelnahm, war, dass sie bei ihren hastigen Ortswechseln nie wieder nach Berlin zog. Dorthin, wo sie mich geboren hatte. Sie bekam immer leicht eine neue Arbeit als Krankenschwester und ich weiß nicht genau, wovor sie floh. Ob es eine Rastlosigkeit war, eine Langeweile, ihre Art, mit dem Eingesperrtsein in der DDR umzugehen, oder ob es doch nur eine Flucht vor den gescheiterten Liebesbeziehungen in Leipzig und davor in Jena war. Sie war erst 32 als wir nach Güstrow zogen, sie hatte mich mit 19 Jahren geboren und keine ihrer Liebschaften ging so weit, dass sie noch ein zweites Kind bekam. Wir blieben allein auf eine Art. Keiner der Männer zog zu uns, sie hielt mich da raus, um den Preis, dass ich relativ früh allein zu Hause bleiben musste, weil sie Nachtdienst hatte oder eben bei ihrem derzeitigen Freund war. Wenn ich aufwachte am frühen Morgen, saß sie dann aber immer in der Küche mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette. Sie trug noch ihren Schwesternkittel mit dem angesteckten Namensschild über der Brust, und sie sah müde aus und irgendwie zufrieden. Wenn ich in die Schule ging, machte sie mein Frühstück, und im Sommer, in den Ferien, in denen wir in Güstrow ankamen, schliefen wir beide dann bis zum Mittag. Wir gingen zusammen ins Schwimmbad am Inselsee und ich sprang Köpper vom Dreimeterbrett, das hatte ich mich in Leipzig noch nicht getraut. Ich wippte leicht auf dem Brett, sah hinunter und hatte nur Angst davor, dass ich überschlagen und mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche knallen würde. Die Stadt war klein und wirkte wie ein Dorf gegen Leipzig, da nützte auch das Schloss nichts. Unsere Wohnung lag in einem Plattenbau, der nur vier Etagen hatte, und ich bekam tatsächlich ein eigenes Zimmer, einen schmalen Schlauch mit Blick auf die Straße und mit einer Laterne vor dem Fenster. Walter wohnte nebenan in einer heruntergekommenen Villa. Er bewohnte das Erdgeschoss, und bei ihm im Garten gab es alte Obstbäume, Büsche und eine große Wiese. Hinter unserem Haus hatten die Bewohner kleine Parzellen, in denen sie Gemüse zogen und die jeweils eine Rasenfläche hatten, die für einen Tisch mit ein paar Stühlen reichte. Walter arbeitete in der Bettenaufbereitung des Krankenhauses. Das heißt, sie brachten ihm die benutzten Betten in den Keller, die Betten, in denen ein Kranker tagelang gelegen hatte oder sogar gestorben war, und er desinfizierte sie, bezog sie neu und stellte sie vor sein Kabuff wie Autos auf einen Parkplatz. Sein Ausreiseantrag lief seit fünf Jahren und sie hatten ihn hier in den Keller verbannt. Jahrelang war er Leiter der Sterilisationsabteilung gewesen, dann hatten sie ihm das Amt genommen und ihn an den entferntesten Ort gesetzt, den es in seiner Abteilung gab. Er hätte ausweichen, sich entziehen und irgendwo eine andere Arbeit suchen können. Aber das wollte er nicht. Dieses Aushalten im Keller gehörte für ihn wohl dazu. Meine Mutter kam mit ihm ins Gespräch, nachdem eine andere Schwester dort in dem fensterlosen neonhellen Schlauch zu ihm gesagt hatte: »Du bist ja immer noch hier.« Und er hatte zurückgebrüllt: »An mir liegt es nicht.« Der Fischer drosselt den Motor und macht ihn dann ganz aus. Mit einem langen metallenen Haken sucht er den Grund ab. Wir sind dicht am Ufer, das nur aus etwas aufgeschüttetem Sand besteht und ein paar kargen Büschen. »Fahren Sie denn sonst mit Ihrer Frau hier raus?«, frage ich in die Morgenstille, die nach dem Ausschalten des Motors plötzlich entstanden ist. Sie lebt nicht mehr, da bin ich sicher. Ich will, dass er das erzählt, und kann nicht sagen, warum. Er hat »Die war nicht groß« gesagt. War. Josef Neuer hat das Netz gefunden und beginnt, es raufzuziehen. »Wir sind immer zusammen gefahren. Zwanzig Jahre lang. Als unser Lütter aus dem Haus war, ist sie mitgekommen. ›Was soll ich zu Hause?‹, hat sie gesagt. Mir war das gar nicht recht, erst. Und dann hatte die auch Ahnung. Setz mal die Netze hier, und am nächsten Tag waren die voll. Mensch du, hab ich gedacht«, sagt er und beendet den Satz nicht und zieht auch das Netz nicht weiter ein. »Und letztes Jahr ist sie einmal nicht mitgekommen, weil ihr nicht gut war, und wie ich nach Hause komm, sitzt sie da. Ganz kalt.« Ich sehe ihn an und bereue meine Frage nicht. Eine Autofähre zieht an uns vorbei mit einem knallroten Rumpf und »Danube Highway« steht darauf. Neuer sieht ihr nach und holt dann das Netz weiter ein. Er trägt blaue Gummihandschuhe, und die zerrissenen Körper der Quallen in den Maschen glitzern in der Sonne wie Eisbrocken. Endlich ein Fisch, einer mit dunkelgrünen Streifen auf dem Rücken. Er zappelt nicht, sondern scheint sich eher zu strecken. Neuer dreht ihn langsam heraus und sagt: »Erster Fang’n Barsch, Fang in’ Arsch.« Und dann lachen wir beide. »Was sind Sie denn nun, wenn Sie nicht Walters Sohn sind? Mein Jung kommt, hat er zu mir gesagt, und dass du oder Sie früher ganz heiß waren aufs Angeln.« »Wir waren Nachbarn in Güstrow, vielleicht auch mehr. Freunde, meine ich.« »Vielleicht Freunde?« Neuer legt das leere Netz zusammen wie ein Wäschestück und wirft es vor sich auf den Boden. Er stopft noch einmal seine Pfeife und sieht mich an. »Walter hat nicht viel erzählt über Güstrow und drüben. Aber wenn er mal was geredet hat, dann über euch. Nie über Stasi und so ’n Kram. Immer über deine Mutter und was das für ein Glück für ihn war. So eine schöne junge Frau am Ende des Lebens, und dass er wie ein Vater sein konnte für ihren Jungen. Prachtkerl hat er Sie genannt. Nur dass Ihre Mutter nicht mit in den Westen wollte, selbst als die Mauer fiel. Dass sie zu feige war.« »Er war zu feige zu bleiben«, sage ich und dann ist es mir unangenehm, so wie damals, als ich das nur dachte, während Walter seine Sachen in das Auto packte und wenig später für immer verschwand. Ich wollte nicht, dass er geht, aber wie hätte ich das sagen sollen? »Wie haben Sie das vorhin gemeint: mein Macker? «, frage ich Neuer schnell. »Das sagt man doch so. Walter hilft mir ab und zu. Wenn ich den Fisch verkauf in Holtenau. Oder er besorgt mir mal Köder oder so.« »Mein bester Freund ist hier Fischer«, hatte Walter hingegen gesagt, als er mich in Hamburg in der Kanzlei anrief, und dass ich kommen sollte und mit ihnen rausfahren und fischen. Ich sagte zu. Ich war gierig auf alles, was mich aus dem Trott brachte, aus diesem Büroalltag und meinem Leben zu Hause. Seit Sarah ausgezogen war, konnte ich dort nicht gut sein. Ein halbes Jahr vorher hätte ich ihn abgewimmelt. An dem Tag, an dem Sarah mich verließ, ging ich aus dem Büro nach Hause. Wie immer. Nur später. Wir hatten das so besprochen, so wie wir vieles besprochen hatten im letzten halben Jahr. Den anderen ausreden lassen, nachfragen, von sich erzählen. Die Familientherapeutin, zu der wir auf Sarahs Wunsch gingen, fragte sie irgendwann: »Lieben Sie Ihren Mann? Sie müssen wollen, sonst können wir uns das hier sparen.« Darauf wusste sie tatsächlich keine Antwort und ein paar Wochen später ist sie ausgezogen. Die Kinder wohnten im Wechsel bei ihr und bei mir, und wenn sie bei mir waren, kam ich mir selber fremd vor. So als wäre ich gar nicht ihr Vater, sondern eher ein Onkel. Wenigstens hatten sie noch ihr Kinderzimmer, das sah aus wie immer. Das Schlimmste in der Wohnung an diesem Auszugstag waren die Ränder auf dem Teppichboden. Ein Kreis für einen Teller, auf dem ein Blumentopf gestanden hatte, ein Rechteck für die Biedermeierkommode, die kleinen Eindrücke der Stühle des Esstisches, die aussahen wie die Abdrücke von Hundepfoten. Ich musste immer wieder hinsehen. Es schien, als wäre meine Familie einkaufen oder beim Sport, was weiß ich wo. Nur die Abdrücke waren neu. Walter wollte gestern nur über meine Mutter reden. Das wurde mir schnell klar, als ich in seiner Mansardenwohnung in Kiel-Holtenau saß. Der Weg hatte mich von der Kanalbrücke Richtung Wasser geführt. Die Straße schlängelte sich abwärts durch ein Viertel mit Backsteinhäusern. Einige hatten zwei Giebel und sahen so aus wie zwei Häuser, die miteinander verbunden waren. Ich fuhr bis ganz hinunter, bis ich am Kanal stand, und parkte vor der Schleuseninsel. Dort, wo die Kieler Förde in den Nord-Ostsee-Kanal mündet, stand ein kleines Café, ein einzelnes Haus, ebenfalls aus Backstein und vollgemölt mit Schiffsutensilien. Es war später Nachmittag und drinnen tanzte ein junges Paar Tango in einem Raum, an dessen Rändern Stühle standen wie bei einer Schuldisko. Sie waren ganz allein und der Mann trug einen sandfarbenen Anzug und die Frau ein knielanges dunkles Kleid. Die meisten Gäste aber saßen draußen in der tiefstehenden Sonne und tranken Bier und Wein. Sie sahen nicht aus wie Touristen, aber auch nicht wie Leute, die hierher gehörten. Vielleicht waren sie einfach aus Kiel und über die Förde gekommen, nur um ein Feierabendbier zu trinken. Ich setzte mich dazu und wollte bald nicht wieder gehen. Ein russisches Schiff legte direkt vor uns an. Die übereinander gestapelten Container sahen aus wie zu groß geratenes Spielzeug. Ein Matrose sprang von Bord, um das Schiff zu vertäuen. Es wurde von einem kleinen Boot aus betankt und war nach wenigen Minuten schon wieder verschwunden. Ich kam mir vor wie in Holland oder in England oder in Dänemark. Ich wusste es nicht genau, aber es war so, als ob sich meine Realität leicht verschoben hätte, als wäre ich neben der Spur. Mir gefiel das, das war alles, was ich von diesem Tag gewollt und eigentlich gar nicht erhofft hatte. Ich machte mich dann aber auf den Weg und suchte nach Walters Adresse. Er freute sich sehr, als er mir die Tür öffnete. Seine blassblauen Augen lagen unter buschigen grauen Brauen, es standen Tränen darin, und seine Stimme zitterte leicht, als er mich umarmte und sagte: »Wie schön, dass du da bist.« Wenig später in seiner Küche zog er dann einen Tintenfisch aus dem Topf. Ich hatte mich gerade erst gesetzt und er hob das Riesenvieh mit einer Gabel heraus und legte es wie eine Trophäe auf ein Brett. Ich sah die kleinen roten Saugnäpfe an den Armen des Kraken und den massigen hautweißen Körper. »Man muss ihn mit drei Rotweinkorken kochen, wegen der Gerbsäure«, sagte Walter, als würde er mir ein Familienrezept verraten. Er zerschnitt den Tintenfisch und übergoss die kleinen Stücke mit einem Gemisch aus Olivenöl, Knoblauch und Petersilie. Es schmeckte phantastisch, fast nicht wie Fisch, und die Konsistenz war ungleich weicher als der Krake ausgesehen hatte. »Das ist das Beste, was ich in letzter Zeit an Fisch gegessen habe«, sagte Walter, und ich fragte: »Und den fangt ihr in der Ostsee?«, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Aber nein«, sagte Walter und ging darüber hinweg und redete dann ununterbrochen von meiner Mutter. Er hat sie geliebt damals und ich wusste das, konnte es mit meinen dreizehn Jahren sehen, auch weil Walter gar keinen Hehl daraus machte. Er kam für meine Mutter nicht in Frage und auch das war mir klar. Ich kannte den Typ Mann, den sie bevorzugte, zur Genüge, und der sah nicht aus wie Walter. Sie mochte ihn, aber sie hielt ihn auf Abstand. Doch er ließ sich nicht stören, brachte ihr Blumen und stand am Abend mit einer Flasche Wein vor der Tür. Wir waren nie bei ihm in der Villa, und ich glaube, Walter brachte sich auch bei uns in Sicherheit. Er floh nicht nur vor seiner Einsamkeit. Im ersten Stock der Villa wohnte sein Nachfolger, der neue Chef der Sterilisationsabteilung des Krankenhauses, und der ließ keine Möglichkeit aus, Walter zu schikanieren. Mal war das Schloss der Haustür ausgetauscht, mal spielte er Militärmärsche nachts um zwei und hin und wieder brannte sogar das Licht in Walters Wohnung, auch wenn er wusste, dass er es beim Gehen gelöscht hatte. »Und deine Mutter? Was macht sie denn nun?«, fragte Walter und räumte die Reste des Tintenfisches vom Tisch. Es war immer noch sehr warm und er trug ein weißes kurzärmliges Hemd über einer etwas ausgebeulten schwarzen Stoffhose. Er hatte es weit aufgeknöpft und man konnte seine weiche alte Haut sehen mit den vielen Leberflecken. Ich drehte mein Weinglas in der Hand und sah auf den Rand, der das Licht der Kerze brach. »Es geht ihr gut. Sie lebt in München. Hat einen privaten Pflegedienst aufgemacht und verdient gutes Geld. Sie hat noch einmal geheiratet, einen Österreicher, der auch mit ihr zusammenarbeitet. Und sie hat noch ein Kind bekommen mit 38 Jahren. ›So war ich im Osten eine normale Mutter und im Westen bin ich es jetzt auch‹, meint sie immer.« Ich sah ihn an und wusste, das wollte er nicht hören, aber ich wollte keine Rücksicht nehmen auf Walter. Wir redeten weiter über die alten Zeiten. Wie er mir das Angeln beigebracht hatte, das Blinkern auf Barsche und Hechte, und wie ich in die Hocke ging und ganz nah ran, als er mir das erste Mal den Kehlenschnitt zeigte, bei einer silbernen Plötze, deren fein geschuppter Leib aussah, als trüge sie ein Kettenhemd. Ich erinnere mich besonders gut an einen Tag in diesem Sommer. Lange bevor sie in Leipzig auf die Straße gingen und auch Wochen bevor die Ungarn die Grenzen öffneten. Es war sehr warm, es war Wochenende. An den Zaun unseres Plattenbaus hinter den kleinen Gärten grenzte ein Park und auf einer Wiese spielten Männer Fußball. Dicke, unförmige Männer in weiten knielangen Hosen. Vor dem Zaun saß ich auf dem Dach des Kaninchenstalls, der einem Mieter des Hauses gehörte. Ich hatte eines der Kaninchen im Arm, ein grau-weißes, für das ich eine Art Patenschaft übernommen hatte, vom Tag unserer Ankunft bis zu seiner Schlachtung kurz vor Weihnachten. Die Dachpappe unter mir war warm und ich saß im Schneidersitz und meine Mutter und Walter standen hinter mir und wir johlten und schrien und feuerten die Männer an. Dann sah ich, wie der Mann, der in Walters Haus über ihm wohnte und der diese unglaublichen Dinge tat, durch den Garten ging. Er trug eine Turnhose und ein weißes Unterhemd und hatte eine Gartenschere in der Hand. Ich hatte ihn noch nie so nah gesehen und als sich unsere Blicke trafen, stockte er kurz in der Bewegung. Meine Mutter legte in diesem Moment den Arm um Walter und sah ebenfalls hinüber, und das war die einzige zärtliche Berührung, die es zwischen ihnen gegeben hatte in diesem halben Jahr. ...
Es ist Morgen, halb fünf und schon heller als ein Zwielicht, mehr als eine Dämmerung, und doch noch nicht Tag. Ich habe gut geschlafen auf der Rückbank meines Autos und es erscheint mir unglaublich, dass ich hier stehe. In der Kanalstraße in Kiel-Holtenau. Der Wecker meines Handys hat geklingelt, ich habe mir im Halbschlaf die Schuhe angezogen und bin raus in diesen Morgen. Völlig allein, kein Mensch zu sehen. Die Häuser stehen noch dunkel. Vor mir liegen ein paar Segeljachten an einem Steg, und weiter hinten, wenn man über den Kanal hinwegsieht, glitzert die Förde und in Kiel brennen noch die Laternen der Nacht. Die Blätter der Ahornbäume über mir dämpfen das frühe Licht noch einmal, aber ich bin mir sicher, dass es ein schöner Tag wird. Ein Sommertag mit großer Hitze. Ein Tag wie gestern, als ein Flimmern über den Feldern lag, die Halme honiggelb waren vor Trockenheit und ich die Autobahn verließ und lieber die Landstraße nahm bis nach Kiel. Ich fuhr am Zentrum der Stadt vorbei und dann über die Brücke auf die andere Seite über den Nord-Ostsee-Kanal, der tief unten liegt, und es hatte etwas von Amerika, hier rüber zu fahren, etwas vom Hudson River, nur dass der Fluss dort unten eben gegraben wurde. Ein Auto fährt langsam die Kanalstraße entlang. Ein weinroter BMW-Kombi. Der Mann, der aussteigt, trägt eine blaue Latzhose. Er kommt auf mich zu und ich denke, dass ein Fischer doch keinen BMW fährt. »Sind Sie der Sohn von meinem Macker?« »Ihrem Macker?« »Na, Walter eben.« Ich gebe ihm die Hand und sage: »Bin ich. Das heißt, nicht sein Sohn.« »Was denn dann?«, fragt der Fischer und lacht. Er wirkt schon sehr wach, das Gesicht ist eben und die Haare stehen wie eine graue Bürste vom Kopf ab. Seine Züge sind fein, und er sieht nicht aus wie jemand, der zur See fährt. Als würde er wissen, was ich denke, und als wollte er das Gegenteil beweisen, kramt er eine Pfeife aus der Tasche und eine kleine grüne Plastiktüte mit Tabak. Er stopft die Pfeife, zündet sie an und sieht immer noch nicht aus, wie ich mir einen vorgestellt habe, der die Tage allein auf dem Meer verbringt. Wir stehen beide unbeholfen da und ich deute zum Kanal, wo direkt vor der Schleuse ein Fischkutter vertäut ist. »Ihr Schiff?«, frage ich und das sieht genau aus wie ein Fischkutter. Weiß, mit einer stählernen Reling, einem Führerhaus, und das Steuerrad ist aus Holz. Auf so was war ich vorbereitet. »Ja, meins, aber das nehmen wir heute nicht. Damit fahr ich aufs Meer. Wenn Heringszeit ist oder mal auf Dorsch. Heut nehmen wir den Lütten. Der liegt im Hafen.« Er zeigt mit dem Kopf auf die Schleuseninsel mitten im Kanal und ich nicke und frage mich, wo wir dann fischen werden. »Vielleicht hat Walter verpennt. Das passiert ihm hin und wieder. Öfters in letzter Zeit sogar«, sagt der Fischer und dass er Josef Neuer heißt. Ich hätte gern einen Kaffee. Für einen kurzen Moment möchte ich in meinem Leben sitzen, in meiner Küche, und nicht neben Josef Neuer stehen. Walter wollte gestern noch, dass ich bei ihm übernachte. »Hab oft genug auf dich aufgepasst, damals.« Aber mir war das zuviel nach diesem gemeinsamen Abend fast zwanzig Jahre später, und so habe ich etwas von einem Hotel behauptet und war froh, gehen zu können. »Verschlaf nicht, mein Jung«, rief er mir hinterher, an die Tür gelehnt, angetrunken und achtzig Jahre alt. Ein merkwürdiges Bild für mich, der ich eigentlich gar keines mehr von ihm hatte. »Komm, wir gehen. Walter war ja schon oft mit mir draußen«, sagt Josef Neuer und klopft die Pfeife am Hacken seines Gummistiefels aus. Wir fahren mit seinem Auto durch das Tor auf der Schleuseninsel. Er zeigt einen Ausweis hoch und sagt, ohne mich anzusehen: »Wegen 11. September«, so als würde das alles erklären und auch Fischer in Kiel-Holtenau müssten sich beim CIA anmelden, wenn sie einen Hafen betreten. Wir gehen auf die schmale Eisenbrücke über der Schleuse, und das Wasser des von Metallwänden begrenzten Beckens ist voller Quallen. Wie das Sago in der kalten Kirschensuppe, die meine Mutter an Sommertagen kochte, drängen sie dicht an dicht. »Der Wind kommt von Osten«, sagt Josef Neuer. »Das drückt die Viecher dann in die Schleuse und in den Kanal. Da fängt man kaum Fische bei dem Wetter. Das hühnert schon seit Tagen so rum. Alles voll mit Algen und Quallen.« Auf einer Wiese steht ein kleiner roter Bauwagen aus Holz und durch das Fenster an seiner Rückseite sieht man Netze und Bojen bis unter die Decke gestapelt. Neuer öffnet das Vorhängeschloss und reicht mir eine orange Ölhose und Gummistiefel. »Müsste passen. Die sind von meiner Frau und groß war die nicht.« War hat er gesagt, und was macht seine Frau denn an Bord? Das bringt doch Unglück?, denke ich und dann gehen wir zu einem kleinen flachen Boot mit Außenbordmotor und fahren los, weg von der Schleuse, hinein in den Kanal. An Lagerhallen vorbei, großen Betonsilos und einer Werft. Vor uns spannt sich hoch die Autobahnbrücke. Vier Frachter hintereinander kommen uns auf der anderen Kanalseite entgegen, langsam wie riesige Tiere. Fast lautlos sind sie, nur unser kleiner Motor ist zu hören. Der Himmel ist taubenblau und die Silhouetten der Bäume am Ufer heben sich ab gegen den gelblich roten Streifen Licht am Horizont. »Du bist ja noch da«, hatte Walter gesagt, als er mich vor ein paar Tagen in Hamburg anrief, in der Kanzlei. Es war früher Abend und für mich nichts Besonderes, noch am Schreibtisch zu sitzen und zu arbeiten. Die Sekretärin war gegangen und hatte wie immer das Telefon direkt auf mich durchgestellt. Der Fall vor mir war einfach und die Aktenlage klar, als das Telefon klingelte und Walter diesen Satz sagte ohne jede Begrüßung. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich jemanden erwartet hatte, ob ich mich wunderte, dass das Telefon klingelte, oder selbstverständlich danach griff, ohne nachzudenken. Normalerweise rief nur Sarah um diese Zeit an und wir redeten kurz. Und wenn es bei mir später wurde, dann gab sie mir noch die Kinder, damit ich ihnen Gute Nacht sagen konnte. Aber Sarah rief nicht mehr an, seit Wochen schon nicht mehr. Ich erkannte ihn nicht an der Stimme. Vielleicht ist das auch nicht möglich nach so einer langen Zeit. Walter redete mit mir, als müsste ich wissen, wer er sei, und hätte eigentlich auf seinen Anruf gewartet. »Das ist lange her«, hörte ich mich irgendwann sagen, und ich sah ihn vor mir in Güstrow. Wie er seinen gerade erst in Hamburg gekauften hellblauen Ford Escort belud mit Kisten und ich daneben stand und ihm zusah. »Warum gehst du jetzt?«, hatte ich ihn damals gefragt und er hatte geantwortet: »Das verstehst du vermutlich nicht.« »Es ist doch vorbei«, sagte ich. »Du kannst fahren, wohin du willst und sooft du willst.« Vor seiner Garage lag der Garten farblos und ohne jedes Blatt. Das Jahr ging zu Ende, und ich glaube, mich verwirrte besonders, dass er so kurz vor Weihnachten ging, und so, als hätte er keine Zeit mehr. Walter war sechzig damals. Ein alter Mann für mich, der selber dreizehn war. Wir hatten uns gerade erst kennengelernt, ein halbes Jahr vorher in Güstrow. Meine Mutter war mit mir dorthin gezogen, direkt nach der Zeugnisausgabe, so wie sie es jedes Mal gemacht hatte. Wir hatten drei Jahre lang in Leipzig gewohnt, und nun wollte sie es mit Mecklenburg versuchen. »Da ist es schön ruhig. Wir haben den Inselsee vor der Tür. Das Krankenhaus hat mir eine Anderthalb-Raum-Wohnung besorgt. Und du kannst dir gleich im Sommer neue Freunde suchen.« Sie versuchte mich aufzumuntern, aber das brauchte sie gar nicht. Ich war froh, aus Leipzig wegzukommen. Ich hatte keine Freunde, jedenfalls niemanden, den ich wirklich vermissen würde, und das einzige, was ich ihr übelnahm, war, dass sie bei ihren hastigen Ortswechseln nie wieder nach Berlin zog. Dorthin, wo sie mich geboren hatte. Sie bekam immer leicht eine neue Arbeit als Krankenschwester und ich weiß nicht genau, wovor sie floh. Ob es eine Rastlosigkeit war, eine Langeweile, ihre Art, mit dem Eingesperrtsein in der DDR umzugehen, oder ob es doch nur eine Flucht vor den gescheiterten Liebesbeziehungen in Leipzig und davor in Jena war. Sie war erst 32 als wir nach Güstrow zogen, sie hatte mich mit 19 Jahren geboren und keine ihrer Liebschaften ging so weit, dass sie noch ein zweites Kind bekam. Wir blieben allein auf eine Art. Keiner der Männer zog zu uns, sie hielt mich da raus, um den Preis, dass ich relativ früh allein zu Hause bleiben musste, weil sie Nachtdienst hatte oder eben bei ihrem derzeitigen Freund war. Wenn ich aufwachte am frühen Morgen, saß sie dann aber immer in der Küche mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette. Sie trug noch ihren Schwesternkittel mit dem angesteckten Namensschild über der Brust, und sie sah müde aus und irgendwie zufrieden. Wenn ich in die Schule ging, machte sie mein Frühstück, und im Sommer, in den Ferien, in denen wir in Güstrow ankamen, schliefen wir beide dann bis zum Mittag. Wir gingen zusammen ins Schwimmbad am Inselsee und ich sprang Köpper vom Dreimeterbrett, das hatte ich mich in Leipzig noch nicht getraut. Ich wippte leicht auf dem Brett, sah hinunter und hatte nur Angst davor, dass ich überschlagen und mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche knallen würde. Die Stadt war klein und wirkte wie ein Dorf gegen Leipzig, da nützte auch das Schloss nichts. Unsere Wohnung lag in einem Plattenbau, der nur vier Etagen hatte, und ich bekam tatsächlich ein eigenes Zimmer, einen schmalen Schlauch mit Blick auf die Straße und mit einer Laterne vor dem Fenster. Walter wohnte nebenan in einer heruntergekommenen Villa. Er bewohnte das Erdgeschoss, und bei ihm im Garten gab es alte Obstbäume, Büsche und eine große Wiese. Hinter unserem Haus hatten die Bewohner kleine Parzellen, in denen sie Gemüse zogen und die jeweils eine Rasenfläche hatten, die für einen Tisch mit ein paar Stühlen reichte. Walter arbeitete in der Bettenaufbereitung des Krankenhauses. Das heißt, sie brachten ihm die benutzten Betten in den Keller, die Betten, in denen ein Kranker tagelang gelegen hatte oder sogar gestorben war, und er desinfizierte sie, bezog sie neu und stellte sie vor sein Kabuff wie Autos auf einen Parkplatz. Sein Ausreiseantrag lief seit fünf Jahren und sie hatten ihn hier in den Keller verbannt. Jahrelang war er Leiter der Sterilisationsabteilung gewesen, dann hatten sie ihm das Amt genommen und ihn an den entferntesten Ort gesetzt, den es in seiner Abteilung gab. Er hätte ausweichen, sich entziehen und irgendwo eine andere Arbeit suchen können. Aber das wollte er nicht. Dieses Aushalten im Keller gehörte für ihn wohl dazu. Meine Mutter kam mit ihm ins Gespräch, nachdem eine andere Schwester dort in dem fensterlosen neonhellen Schlauch zu ihm gesagt hatte: »Du bist ja immer noch hier.« Und er hatte zurückgebrüllt: »An mir liegt es nicht.« Der Fischer drosselt den Motor und macht ihn dann ganz aus. Mit einem langen metallenen Haken sucht er den Grund ab. Wir sind dicht am Ufer, das nur aus etwas aufgeschüttetem Sand besteht und ein paar kargen Büschen. »Fahren Sie denn sonst mit Ihrer Frau hier raus?«, frage ich in die Morgenstille, die nach dem Ausschalten des Motors plötzlich entstanden ist. Sie lebt nicht mehr, da bin ich sicher. Ich will, dass er das erzählt, und kann nicht sagen, warum. Er hat »Die war nicht groß« gesagt. War. Josef Neuer hat das Netz gefunden und beginnt, es raufzuziehen. »Wir sind immer zusammen gefahren. Zwanzig Jahre lang. Als unser Lütter aus dem Haus war, ist sie mitgekommen. ›Was soll ich zu Hause?‹, hat sie gesagt. Mir war das gar nicht recht, erst. Und dann hatte die auch Ahnung. Setz mal die Netze hier, und am nächsten Tag waren die voll. Mensch du, hab ich gedacht«, sagt er und beendet den Satz nicht und zieht auch das Netz nicht weiter ein. »Und letztes Jahr ist sie einmal nicht mitgekommen, weil ihr nicht gut war, und wie ich nach Hause komm, sitzt sie da. Ganz kalt.« Ich sehe ihn an und bereue meine Frage nicht. Eine Autofähre zieht an uns vorbei mit einem knallroten Rumpf und »Danube Highway« steht darauf. Neuer sieht ihr nach und holt dann das Netz weiter ein. Er trägt blaue Gummihandschuhe, und die zerrissenen Körper der Quallen in den Maschen glitzern in der Sonne wie Eisbrocken. Endlich ein Fisch, einer mit dunkelgrünen Streifen auf dem Rücken. Er zappelt nicht, sondern scheint sich eher zu strecken. Neuer dreht ihn langsam heraus und sagt: »Erster Fang’n Barsch, Fang in’ Arsch.« Und dann lachen wir beide. »Was sind Sie denn nun, wenn Sie nicht Walters Sohn sind? Mein Jung kommt, hat er zu mir gesagt, und dass du oder Sie früher ganz heiß waren aufs Angeln.« »Wir waren Nachbarn in Güstrow, vielleicht auch mehr. Freunde, meine ich.« »Vielleicht Freunde?« Neuer legt das leere Netz zusammen wie ein Wäschestück und wirft es vor sich auf den Boden. Er stopft noch einmal seine Pfeife und sieht mich an. »Walter hat nicht viel erzählt über Güstrow und drüben. Aber wenn er mal was geredet hat, dann über euch. Nie über Stasi und so ’n Kram. Immer über deine Mutter und was das für ein Glück für ihn war. So eine schöne junge Frau am Ende des Lebens, und dass er wie ein Vater sein konnte für ihren Jungen. Prachtkerl hat er Sie genannt. Nur dass Ihre Mutter nicht mit in den Westen wollte, selbst als die Mauer fiel. Dass sie zu feige war.« »Er war zu feige zu bleiben«, sage ich und dann ist es mir unangenehm, so wie damals, als ich das nur dachte, während Walter seine Sachen in das Auto packte und wenig später für immer verschwand. Ich wollte nicht, dass er geht, aber wie hätte ich das sagen sollen? »Wie haben Sie das vorhin gemeint: mein Macker? «, frage ich Neuer schnell. »Das sagt man doch so. Walter hilft mir ab und zu. Wenn ich den Fisch verkauf in Holtenau. Oder er besorgt mir mal Köder oder so.« »Mein bester Freund ist hier Fischer«, hatte Walter hingegen gesagt, als er mich in Hamburg in der Kanzlei anrief, und dass ich kommen sollte und mit ihnen rausfahren und fischen. Ich sagte zu. Ich war gierig auf alles, was mich aus dem Trott brachte, aus diesem Büroalltag und meinem Leben zu Hause. Seit Sarah ausgezogen war, konnte ich dort nicht gut sein. Ein halbes Jahr vorher hätte ich ihn abgewimmelt. An dem Tag, an dem Sarah mich verließ, ging ich aus dem Büro nach Hause. Wie immer. Nur später. Wir hatten das so besprochen, so wie wir vieles besprochen hatten im letzten halben Jahr. Den anderen ausreden lassen, nachfragen, von sich erzählen. Die Familientherapeutin, zu der wir auf Sarahs Wunsch gingen, fragte sie irgendwann: »Lieben Sie Ihren Mann? Sie müssen wollen, sonst können wir uns das hier sparen.« Darauf wusste sie tatsächlich keine Antwort und ein paar Wochen später ist sie ausgezogen. Die Kinder wohnten im Wechsel bei ihr und bei mir, und wenn sie bei mir waren, kam ich mir selber fremd vor. So als wäre ich gar nicht ihr Vater, sondern eher ein Onkel. Wenigstens hatten sie noch ihr Kinderzimmer, das sah aus wie immer. Das Schlimmste in der Wohnung an diesem Auszugstag waren die Ränder auf dem Teppichboden. Ein Kreis für einen Teller, auf dem ein Blumentopf gestanden hatte, ein Rechteck für die Biedermeierkommode, die kleinen Eindrücke der Stühle des Esstisches, die aussahen wie die Abdrücke von Hundepfoten. Ich musste immer wieder hinsehen. Es schien, als wäre meine Familie einkaufen oder beim Sport, was weiß ich wo. Nur die Abdrücke waren neu. Walter wollte gestern nur über meine Mutter reden. Das wurde mir schnell klar, als ich in seiner Mansardenwohnung in Kiel-Holtenau saß. Der Weg hatte mich von der Kanalbrücke Richtung Wasser geführt. Die Straße schlängelte sich abwärts durch ein Viertel mit Backsteinhäusern. Einige hatten zwei Giebel und sahen so aus wie zwei Häuser, die miteinander verbunden waren. Ich fuhr bis ganz hinunter, bis ich am Kanal stand, und parkte vor der Schleuseninsel. Dort, wo die Kieler Förde in den Nord-Ostsee-Kanal mündet, stand ein kleines Café, ein einzelnes Haus, ebenfalls aus Backstein und vollgemölt mit Schiffsutensilien. Es war später Nachmittag und drinnen tanzte ein junges Paar Tango in einem Raum, an dessen Rändern Stühle standen wie bei einer Schuldisko. Sie waren ganz allein und der Mann trug einen sandfarbenen Anzug und die Frau ein knielanges dunkles Kleid. Die meisten Gäste aber saßen draußen in der tiefstehenden Sonne und tranken Bier und Wein. Sie sahen nicht aus wie Touristen, aber auch nicht wie Leute, die hierher gehörten. Vielleicht waren sie einfach aus Kiel und über die Förde gekommen, nur um ein Feierabendbier zu trinken. Ich setzte mich dazu und wollte bald nicht wieder gehen. Ein russisches Schiff legte direkt vor uns an. Die übereinander gestapelten Container sahen aus wie zu groß geratenes Spielzeug. Ein Matrose sprang von Bord, um das Schiff zu vertäuen. Es wurde von einem kleinen Boot aus betankt und war nach wenigen Minuten schon wieder verschwunden. Ich kam mir vor wie in Holland oder in England oder in Dänemark. Ich wusste es nicht genau, aber es war so, als ob sich meine Realität leicht verschoben hätte, als wäre ich neben der Spur. Mir gefiel das, das war alles, was ich von diesem Tag gewollt und eigentlich gar nicht erhofft hatte. Ich machte mich dann aber auf den Weg und suchte nach Walters Adresse. Er freute sich sehr, als er mir die Tür öffnete. Seine blassblauen Augen lagen unter buschigen grauen Brauen, es standen Tränen darin, und seine Stimme zitterte leicht, als er mich umarmte und sagte: »Wie schön, dass du da bist.« Wenig später in seiner Küche zog er dann einen Tintenfisch aus dem Topf. Ich hatte mich gerade erst gesetzt und er hob das Riesenvieh mit einer Gabel heraus und legte es wie eine Trophäe auf ein Brett. Ich sah die kleinen roten Saugnäpfe an den Armen des Kraken und den massigen hautweißen Körper. »Man muss ihn mit drei Rotweinkorken kochen, wegen der Gerbsäure«, sagte Walter, als würde er mir ein Familienrezept verraten. Er zerschnitt den Tintenfisch und übergoss die kleinen Stücke mit einem Gemisch aus Olivenöl, Knoblauch und Petersilie. Es schmeckte phantastisch, fast nicht wie Fisch, und die Konsistenz war ungleich weicher als der Krake ausgesehen hatte. »Das ist das Beste, was ich in letzter Zeit an Fisch gegessen habe«, sagte Walter, und ich fragte: »Und den fangt ihr in der Ostsee?«, nur um überhaupt etwas zu sagen. »Aber nein«, sagte Walter und ging darüber hinweg und redete dann ununterbrochen von meiner Mutter. Er hat sie geliebt damals und ich wusste das, konnte es mit meinen dreizehn Jahren sehen, auch weil Walter gar keinen Hehl daraus machte. Er kam für meine Mutter nicht in Frage und auch das war mir klar. Ich kannte den Typ Mann, den sie bevorzugte, zur Genüge, und der sah nicht aus wie Walter. Sie mochte ihn, aber sie hielt ihn auf Abstand. Doch er ließ sich nicht stören, brachte ihr Blumen und stand am Abend mit einer Flasche Wein vor der Tür. Wir waren nie bei ihm in der Villa, und ich glaube, Walter brachte sich auch bei uns in Sicherheit. Er floh nicht nur vor seiner Einsamkeit. Im ersten Stock der Villa wohnte sein Nachfolger, der neue Chef der Sterilisationsabteilung des Krankenhauses, und der ließ keine Möglichkeit aus, Walter zu schikanieren. Mal war das Schloss der Haustür ausgetauscht, mal spielte er Militärmärsche nachts um zwei und hin und wieder brannte sogar das Licht in Walters Wohnung, auch wenn er wusste, dass er es beim Gehen gelöscht hatte. »Und deine Mutter? Was macht sie denn nun?«, fragte Walter und räumte die Reste des Tintenfisches vom Tisch. Es war immer noch sehr warm und er trug ein weißes kurzärmliges Hemd über einer etwas ausgebeulten schwarzen Stoffhose. Er hatte es weit aufgeknöpft und man konnte seine weiche alte Haut sehen mit den vielen Leberflecken. Ich drehte mein Weinglas in der Hand und sah auf den Rand, der das Licht der Kerze brach. »Es geht ihr gut. Sie lebt in München. Hat einen privaten Pflegedienst aufgemacht und verdient gutes Geld. Sie hat noch einmal geheiratet, einen Österreicher, der auch mit ihr zusammenarbeitet. Und sie hat noch ein Kind bekommen mit 38 Jahren. ›So war ich im Osten eine normale Mutter und im Westen bin ich es jetzt auch‹, meint sie immer.« Ich sah ihn an und wusste, das wollte er nicht hören, aber ich wollte keine Rücksicht nehmen auf Walter. Wir redeten weiter über die alten Zeiten. Wie er mir das Angeln beigebracht hatte, das Blinkern auf Barsche und Hechte, und wie ich in die Hocke ging und ganz nah ran, als er mir das erste Mal den Kehlenschnitt zeigte, bei einer silbernen Plötze, deren fein geschuppter Leib aussah, als trüge sie ein Kettenhemd. Ich erinnere mich besonders gut an einen Tag in diesem Sommer. Lange bevor sie in Leipzig auf die Straße gingen und auch Wochen bevor die Ungarn die Grenzen öffneten. Es war sehr warm, es war Wochenende. An den Zaun unseres Plattenbaus hinter den kleinen Gärten grenzte ein Park und auf einer Wiese spielten Männer Fußball. Dicke, unförmige Männer in weiten knielangen Hosen. Vor dem Zaun saß ich auf dem Dach des Kaninchenstalls, der einem Mieter des Hauses gehörte. Ich hatte eines der Kaninchen im Arm, ein grau-weißes, für das ich eine Art Patenschaft übernommen hatte, vom Tag unserer Ankunft bis zu seiner Schlachtung kurz vor Weihnachten. Die Dachpappe unter mir war warm und ich saß im Schneidersitz und meine Mutter und Walter standen hinter mir und wir johlten und schrien und feuerten die Männer an. Dann sah ich, wie der Mann, der in Walters Haus über ihm wohnte und der diese unglaublichen Dinge tat, durch den Garten ging. Er trug eine Turnhose und ein weißes Unterhemd und hatte eine Gartenschere in der Hand. Ich hatte ihn noch nie so nah gesehen und als sich unsere Blicke trafen, stockte er kurz in der Bewegung. Meine Mutter legte in diesem Moment den Arm um Walter und sah ebenfalls hinüber, und das war die einzige zärtliche Berührung, die es zwischen ihnen gegeben hatte in diesem halben Jahr. ...