Ich aber bin hier geboren

Rowohlt Verlag (2002)
144 Seiten
ISBN: 3-498-06361-8

Der Band „Ich aber bin hier geboren“ versammelt Erzählungen, deren Stimmen zwar aus der Nachwendezeit stammen, aber die Probleme, von denen sie erzählen, sind solche, die an der Nordsee ebenso empfunden und behandelt werden wie an der Ostsee oder in südlicheren Provinzen. (...) Gregor Sander erzählt in seinem bemerkenswerten Debüt neun solcher Beziehungsgeschichten aus unterschiedlichen Perspektiven. (...) Gregor Sanders gelungene Erzählungen sind die Stillleben gefrorener Momente in orientierungslosen Leben einer haltlosen Zeit, gegen die der Autor sich behauptet mit einem Satz: „Ich aber bin hier geboren.“

Heinz Ludwig Arnold, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2002


Während viele jüngere Autoren aus dem Osten Deutschlands ein ostelbisches Lebensgefühl, ein spezifisches Aufbruchsbewusstsein oder eine fortwirkende Zonenkindermentalität in Szene zu setzen suchen, sind die Erzählungen des 1968 in Schwerin geborenen Gregor Sander von der gesamtdeutschen Depression bestimmt. (...) Wann hat ein junger Autor zuletzt das Leben in den am Stadtrand gebauten Einfamilienhäusern so genau beschrieben?

Wolfgang Schneider, Neue Zürcher Zeitung, 6.3.2003


Es gibt inzwischen viele Erzählungssammlungen. Trotzdem gelingt Sander ein eigener Ton. Meist sind diese Geschichten Ich-Erzählungen, und der Ton ist nicht trostlose Melancholie (wie so oft), sondern wird geprägt durch eine trotzige Akzeptanz der eigenen Loser-Existenz. (...) Aber was das Verhältnis zwischen Ost und West angeht, ist Sander viel weiter. (...) Wenn er aufpasst, wird er ganz anders. Vielleicht gar zum Entdecker der gesamtdeutschen Provinz.

Hans-Peter Kunisch, Die Zeit, 20.3.2003


„Ich aber bin hier geboren“ ist ein erfreuliches Debüt, denn der Verfasser quält nicht mit Füllwörtern und schiefen Bildern, verschleppt seine Dialoge nicht mit stummen Gedanken. Das klingt banal, ist aber selten. (...) Sprechende Details, kurze starke Leitmotivketten, die Geheimnisse der Klarheit: Sander schreibt unverworren über das verworrene Leben. So soll es sein.

Michael Schweizer, Berliner Zeitung, 18.8.2003


Es geht dann auch um die Poesie des Verharrens in Sanders wunderbar gelungenem Debüt-Erzählband. Für Bewegung sorgen immer die anderen. (...) Überhaupt ist das Sanders große Kunst. In den klar nordisch-trocken erzählten Kurzgeschichten des 1968 in Schwerin geborenen Schriftstellers finden sich immer wieder blinde Flecken und Leerstellen, die mit Worten nicht zu füllen sind.

Josef Engels, Die Welt, 7.12.2002


Denn es ist nicht mehr eine bestimmte Sozialisation, die hier durchscheint, nicht mehr ein junger west- oder ostdeutscher oder gar ein „Berliner“ Autor, sondern Gregor Sander, geboren 1969 in Schwerin, ist einer der ersten, der für eine junge gesamtdeutsche Literatur steht: Suchen und Scheitern ist überall! (...) Große Kunst also auf kleinem Raum.

Oliver Seppelfricke, Deutschlandfunk, 27. 1. 2003


Gregor Sander hat ein ausgeprägtes Sensorium für das Unspektakuläre und Banale, schreibt ganz bewusst nicht auf Pointe hin, sondern ist ein Stilist der beiläufigen Notate. Er beobachtet, was sich ihm darbietet, und erfindet, was im Kopf seiner Protagonisten passiert. (...) Mit seinem Geschichtenband ist Gregor Sander ein unaufgeregtes Debüt gelungen, von dem sich einzelne Erzählungen ins Gedächtnis brennen.

Sandra Leis, Der Bund, 10.1.2003


Gregor Sander zum Beispiel, eines der hoffnungsvollsten Talente, ein Vollbluterzähler. Sein schmaler Debütband mit neun Texten drückt das Lebensgefühl einer Generation aus, der die Sozialisation hier oder da nicht mehr wichtig ist. Er hat das präzise beobachtet und beschrieben.

Roland Mischke, Sächsische Zeitung,9.11.2003


Aber eigentlich will Sander nicht über die Landnahme Ost klagen. Der Widerwille über die immer konformistischeren Lebensverhältnisse im Alltag unter westlichen Vorzeichen kommt subtil daher: neue Hotels, umbenannte Geschäfte. Er betreibt kein Marken-Labeling wie es manche seiner KollegInnen mit dem Aufkleber „Wilder Osten“ gerade zu Tode reiten. (...) Doch auf der Messe der literarischen Meister von Morgen werden wir Gregor Sander eine große Förderkoje für die stillen Talente reservieren.

Ingo Arend, Freitag, 7.3.2003

Leseprobe: Titelgeschichte aus dem Erzählungsband "Ich aber bin hier geboren"

Dieser Ort ist unwirklich, verstehen Sie? Er ist unwirklicher als das, was man am Potsdamer Platz in Berlin gebaut hat und auch unwirklicher als die City Nord in Hamburg, in der es nachts keine Menschen gibt, in einem Büroviertel mitten in der Stadt. Dieser Ort ist so unwirklich, weil er zum größten Teil der Vorstellung der Menschen entspricht, die hier wohnen und deren Wurzeln jahrhunderteweit zurückreichen. In meiner Jugend habe ich versucht, dagegen anzugehen, ich habe versucht, die Bewohner des Ortes zum Verstehen zu bewegen, bis ich sie verstanden habe. Ich habe sie an dem Tag verstanden, als sie 1962 den alten Hafen mitten im Ort zugeschüttet haben, um einen Parkplatz darauf zu bauen. Eine riesige graue Steinfläche, an deren Rand Altglascontainer stehen, hinter einer Hecke, so viel Scham haben sie hier. Dort, wo die Fischerboote anlegten und Holzpfähle mit einem Überzug aus bläulich-grünen Algen aus dem Wasser ragten, wo es ein ständiges Geräusch gab, wenn die Flut kam oder durch die Schreie der Möwen, dort ist jetzt Stille. Die Autos der Tagestouristen aus dem Ruhrgebiet oder aus Bayern, die in den Nachbarorten ihre Ferien verbringen, stehen da. Blaue, rote und grüne Punkte auf dem grauen Stein. Die zahlen dafür eine Mark pro Stunde und freuen sich, mitten im Ort zu stehen, verstehen Sie?

Was sie dann hier zu sehen bekommen, sind begradigte Straßen mit vielen neuen Häusern, bei denen man sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, sich an die Gegend und ihre Vergangenheit zu halten. Statt des roten Backsteins nahmen sie Beton und klinkerten eine rote Schicht davor. Schon bei dem Wort vorgeklinkert läuft es mir kalt den Rücken runter.

Die Häuser hier waren klein und geduckt mit winzigen Fenstern. Das alles hatte seinen Grund, weil es hier den Sturm gibt und die Kälte und sich so ein geducktes Haus wehrt dagegen. Die neuen Häuser sind groß, mit vielen Zimmern, und die großen neuen Fenster haben immer noch Sprossen wie die alten, aber die liegen nur zur Zierde im Glas, wie Aal in Aspik. Die Feriengäste aus Köln, München und Hamburg mögen helle große Zimmer, aber sie mögen auch reetgedeckte Häuser, weil sich das so gehört hinter den Deichen, und deshalb haben die Leute hier Schilf auf ihre Betonhäuser gelegt.

Der Bürgermeister ließ auf dem kleinen Marktplatz einen Kreisverkehr anlegen, dem niemand folgt, nur die Kinder mit ihren Fahrrädern. Und dort, wo die alte Post stand, wurde ein Hotel gebaut, das mit seinen weißen Säulen und riesigen Balkonen nur in den Südstaaten der USA nicht auffallen würde. Auf den Fluren dieses Hotels werden die Lampen durch eine Lichtschranke angeschaltet, und Sie können sich vorstellen, wer davon begeistert ist.

Ich aber bin hier geboren. Und das erste Mal, dass mir etwas gefallen hat, war, als der Wirt des Hotels "Düne" vor ein paar Jahren hinten an das Gebäude eine Kneipe bauen ließ. "La Bodega" heißt sie, und es gibt spanische Gerichte und die Leute dürfen ganz gegen ihre Gewohnheit Erdnussschalen auf den Fußboden werfen. Die "Bodega" ist klein mit einem Tresen und ein paar Tischen, und sie hat mit Spanien etwa so viel zu tun, wie der Parkplatz mit einem alten Fischerhafen. Aber sie gefällt mir trotzdem, auch weil sie erst um vier Uhr morgens schließt. Meistens jedenfalls, wenn Thomas, der angestellte Wirt, es so lange aushält. Wenn ich also nachts um zwölf ein Bier trinken will, muss ich nicht in die Bar des Säulenhotels gehen, sondern kann hier sitzen, über Erdnussschalen, und friesisches Bier trinken.

Thomas ist hier gestrandet. Er ist Seemann, vielleicht der einzige echte Seemann im Ort. Ein schwuler Matrose mit sächsischem Akzent. Der, als sie in seiner Heimat auf die Mauer gestiegen sind, im Suezkanal war und weitergefahren ist nach Hongkong. Der Politoffizier der "Ernst Thälmann" schloss sich ein in seiner Kabine und ließ sich kaum noch sehen an Deck, und die DDR fuhr mit Thomas weiter auf diesem Schiff, und als sie wieder anlegten in Rostock, war das Geld in seinen Taschen schon Vergangenheit. Thomas nahm seine Heuer und stellte sich fortan hinter einen Tresen, weil das sicherer war als ein Schiff, und der Tresen in einer spanischen Kneipe in einem Nordseekurort gehört wahrscheinlich zu den sichersten Plätzen der Welt.

Aber es ist schwierig mit der Liebe für ihn. Und auch sonst langweilte er sich. Er wird weggehen in einem halben Jahr, und im Gegensatz zu manch anderem, der hier davon redet wegzugehen, nach Hamburg, Berlin oder Köln, glaube ich ihm das, denn er ist erst achtundzwanzig und hat Erfahrung im Weggehen. Auch ich habe das versucht mit Berlin. Ein halbes Jahr. Ich glaube, die meisten gehen hier wegen der Liebe weg. Sie hoffen, dass es leichter wird, wenn es größer wird. Ich aber bin hier geboren. Ich habe das mitgeschleppt nach Kreuzberg im Jahr 1970. Und so merkwürdig das vielleicht klingt, ich habe das alles hier vermisst. Nicht gerade den Beton, sondern eher ein Gefühl, ein Gefühl vom Mond über den Deichen, verstehen Sie?

Zwei hier sind den umgekehrten Weg gegangen. Aus den großen Städten an die Nordsee. Richard und Johannes. Der eine kam freiwillig und der andere durch die Schulbehörde. Richard zog in das Haus seiner Großmutter. Ein altes Backsteinhaus mit einem wilden Garten, und Sie sehen schon, dass ich manchmal übertreibe. Es gibt noch alte Häuser hier. Richards Haus ist eines davon, vielleicht sogar das schönste. Ich kenne ihn noch aus der Zeit, als er seine Großmutter besuchte in den sechziger Jahren. Ein hibbeliges Kind, das immer zu schnell war für die einheimischen Kinder, zu schnell und zu laut. Dann kam er lange Zeit nicht mehr. Er soll in Berlin gesessen haben in den Cafés und Bars, und seine Hauptbeschäftigung soll es gewesen sein, schön auszusehen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich weiß das natürlich nicht genau, so etwas hört man nur, aber ich kann es mir vorstellen. Ende der achtziger Jahre kam er hierher. Seine Großmutter war gestorben, und Richard zog in ihr Haus und pachtete eine Kneipe im Nachbarort. Verkaufte Schollen im Mai und Matjes im Sommer. Er arbeitete bis in den Herbst, und im Winter servierte er seinen Gästen an manchen Wochenenden Grünkohl mit Pinkel. Den Rest der Zeit verbrachte er im Haus hinter geschlossenen Fensterläden. Er betreibt das Restaurant immer noch, und ich weiß nicht, wie viel Schulden er gemacht hat und ob er sie beglichen hat. In letzter Zeit redet er davon, aber Sie wissen ja, was so etwas heißt.

Er kam damals mit Frau und Kind, einer schönen Frau und einem stillen Kind. Beide zogen nach Wilhelmshaven ein paar Jahre später. Aber sie arbeitet immer noch in seinem Restaurant, seine schöne Frau, und auch seine spätere Freundin ist dort geblieben, obwohl sie ihn verlassen hat. Sie reden beide nicht mit ihm, sie zischen nur. Und er stolpert durch die Küche und durch das Restaurant, und macht es nicht falsch. Er macht es nur nicht richtig, ihm fehlt ein Stück dazu.

"Ich finde diese Kneipe doof", sagt Richard, wenn er in die "Bodega" kommt, und sitzt trotzdem jede Nacht dort. Sein Restaurant schließt gegen zehn, und dann dreht er hier eine richtige Runde. Er beginnt in der "Düne", geht rüber ins "Leuchtfeuer", dann zum "Strand" und endet in der "Bodega". Er ist immer der Letzte, der geht. Johannes kommt seltener. Er wohnt in einem dieser scheußlichen neuen Häuser am Ortsrand. "Der Schwate" sagen die Leute, wenn sie über ihn reden. Sie reden mehr über ihn, als mit ihm. Johannes trägt nur schwarze Kleidung. Der Rahmen seiner Brille ist schwarz, sein alter Opel Kadett ist schwarz und auch die Wände seiner Wohnung, die Möbel, die Bettwäsche, alles ist schwarz. Auch wenn kaum ein Einwohner das mit eigenen Augen gesehen hat, es beflügelt ihre Fantasie. "Schwarze Messen" gebe es im Dornenweg mit den Schülern, die Johannes in Mathematik und Physik unterrichtet. Ich weiß nicht, wie genau solche Gerüchte entstehen, aber sie entstehen zwangsläufig, verstehen Sie?

Sie mögen ihn trotzdem im Ort. Auch wenn sie nicht viel mit ihm reden. Das gehört zu den Leuten hier. Auch Richard mögen sie. Sie regen sich über seinen verwilderten Garten auf, über die Hecke, die geschnitten werden müsste, oder den ungemähten Rasen. Aber wenn er sich zu ihnen setzt oder sie im Ort trifft, dann reden sie mit ihm. Es ist leichter mit ihm als mit Johannes, weil Richard gern redet, besonders wenn er trinkt.

Thomas hält für Johannes einen speziellen Wein in der "Bodega" bereit. Er wurde extra bestellt. Johannes hat einen riesigen Weinkeller, das heißt eigentlich habe ich ihn, und daher kenne ich Johannes auch. Die wenigsten Häuser besitzen einen Keller, weil das Grundwasser zu hoch ist, und das scheußliche Haus, in dem Johannes wohnt, hat auch keinen. Er mietete vor Jahren meinen Keller für seine Weine. Manchmal fährt er nach Hamburg auf Weinauktionen oder er läßt sich Kisten von Händlern schicken. In meinem Keller sind die Regale voll bis unter die Decke mit Weinen aus Italien und Süddeutschland. Keine französischen oder spanischen. "Man muss sich entscheiden", sagt Johannes. "Es gibt zu viel Wein, also muss man sich entscheiden."

Wenn er in die "Bodega" kommt, dann früher als Richard. Er setzt sich in die hinterste Ecke am Tresen und Thomas bringt ihm ein Glas seines Weins. Wenn Richard kommt, dann geht er nie direkt zu Johannes. Er macht auch in der "Bodega" eine Runde. Er schlägt auf Schultern und erzählt von seinem Tagesumsatz. Erst zum Schluss steht er bei Johannes. Die beiden sind Freunde, auch wenn sie selber das nie so sagen würden, verstehen Sie?

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