Tagebuch eines Jahres

Wallstein Verlag (2014)
192 S., geb., Schutzumschlag, 12 x 20
ISBN: 978-3-8353-1558-7 (2014)

Gefördert durch die Rinke-Stiftung.

4. KW, 23. Januar

Im Bauch des Alexanderplatzes. Mit Jaroslav Rudiš treffe ich mich unter der Erde. Wir laufen durch die vielen Gänge, die hier von der U2 über die U5 zur U8 führen. Die Kacheln sind nicht blau, nicht grün. Türkis hilft als Beschreibung auch nicht. Jara strahlt. Er wollte ein Bahner werden. Ein ‚Eisenbahner’ wie sein Onkel und Großvater. „Die haben mit Stolz diese Uniform getragen, und ich wollte das als Junge auch. Aber dann habe ich mit dreizehn Jahren eine Brille bekommen, und so konnte ich nicht mehr Lokführer werden.“ So ist er Schriftsteller geworden, was mich sehr freut. Auf Deutsch erschienen sind: Der Himmel unter Berlin, Grandhotel, Die Stille von Prag und die Graphic Novel Alois Nebel. Außerdem schreibt er Drehbücher für Filme und Hörspiele.

Kennengelernt haben wir uns in Finnland bei einem Schriftstellerkongress. Wir saßen in der Nähe von Lahti den ganzen Tag in einem großen Zelt, und Autoren aus der ganzen Welt hielten Vorträge zum Thema „Das Unsagbare in der Literatur“. Die wurden simultan ins Englische, Französische und Russische übersetzt. Deutsch gab es nicht, und so wurde mein Vortrag von einem finnischen Autor in finnischer Übersetzung vorgetragen, und ich hörte die englische Simultanübersetzung. Stille Post ist nichts dagegen.

Und es war Mittsommer, es wurde einfach nicht dunkel. Für eine meiner Erzählungen, für Gegenlicht, bin ich zur Wintersonnenwende nach Finnland gefahren. Bis hoch nach Lappland. Da wurde es einfach nicht hell. Man könnte denken, wenn es dann im Sommer nicht dunkel wird, dass das diese pausenlose Dunkelheit im Winter ausgleicht. Aber das stimmt nicht. Ich empfinde es zumindest nicht so. Diese Tage haben etwas Gnadenloses. Es gibt kein Ende. So wie es im Winter keinen Anfang gibt. Ich genieße es, wenn es in einem schönen Sommer in Deutschland nicht dunkel wird und die Sonne erst zwischen 22.00 Uhr und 23.00 Uhr untergeht, aber sie geht unter. Irgendwann. In Finnland war es auch um Mitternacht noch so hell, dass wir Fußball spielen konnten. Die finnischen Autoren gegen den Rest der Welt. Jara und ich haben beim Rest mitgespielt, und sind mit den Finnen danach in die Sauna gegangen. Wir haben erstaunt zugesehen, wie sie Bier auf die heißen Steine gegossen haben, und auch um 02.00 Uhr war es immer noch nicht dunkel.

Das Unsagbare in der Literatur. Jaras und meine Freundschaft war von Anfang an das Gegenteil. Wir haben ununterbrochen geredet. Kamen vom Hölzchen aufs Stöckchen. Auf Deutsch, das der in Liberec geborene Tscheche fast perfekt spricht.

Wir besteigen eine U-Bahn der Linie U1. Ich möchte noch zum Bahnhof Zoo. Die Heldin meines Romans, Astrid, sitzt dort fest. Im Pressecafé, das eine Institution war im alten Westberlin, wo es die Zeitungen vom Folgetag schon am späten Nachmittag zu lesen gab. Nur will das Pressecafé um meine Heldin herum für mich nicht erscheinen, und so geht es nicht weiter. Ich muss sie befreien.

Jara erzählt, dass er am Wochenende nach Tschechien fahren will. Zur Präsidentenwahl. Das nenne ich vorbildliche Bürgerpflicht, aber er wirft seine schwarzen Haare, die ein bisschen an Popperlocken erinnern, aus der Stirn und sagt: „Es herrscht gerade eine ganz große Hysterie in meinem Land. Ich habe vergessen, meinen Wählerausweis hierher zu bestellen, und so muss ich da einfach hinfahren. Es ist so spannend.“

Auch bei uns sind die Präsidentschaftskandidaten durch die Medien gegangen. Vor allem ein komplett tätowierter Künstler. „Ja, der ist jetzt weltberühmt“, sagt Jara. 7% bekam der Mann in den Vorwahlen. „Die beiden Kandidaten, die übriggeblieben sind und jetzt zur Wahl stehen, zeigen, wie wir Tschechen eigentlich sind. Miloš Zemann ist der ewig wiederkehrende Typ Schwejk. Der Tscheche der in der Kneipe hockt, fit ist im Kopf, ständig Witze reißt, Becherovka und Bier trinkt, und seine Aussage ist: Wenn ihr mich wählt, dann wird es gemütlich in unserer Dorfkneipe. Ich bin einer von euch.“

„Ja, und der andere“, sagt Jara nachdenklich, „Karl Schwarzenberg, ein Fürst, der vor den Kommunisten fliehen musste und in Österreich aufwuchs. Der ist unglaublich beliebt bei der Jugend, die laufen mit ‚Karl for President’-T-Shirts rum, so wie es früher ‚Sex Pistols’-T-Shirts gab. Wahrscheinlich sind wir das einzige Land, in dem Jugendliche Adlige anhimmeln. Es ist herrlich, eine Komödie. Aber es hat auch eine Tragik. Weil die Situation auch hysterisch ist. Denn es kann sein, dass die „Beneš- Dekrete“ die Wahl entscheiden. Schwarzenberg sagt: „Es war Unrecht.“ Und Zeman sagt: „Das muss man aus der Perspektive der damaligen Zeit sehen, die Deutschen waren die Bösen, und es ist gut, dass sie weggekommen sind.“ Wir landen am Bahnhof Zoo, und Jara wirft zum letzten Mal die Haare aus dem Gesicht. „Es ist schon verrückt, in Deutschland interessieren die ‚Beneš-Dekrete’ keine Sau mehr, aber in Tschechien können diese alten deutschen Knochen noch eine Wahl entscheiden.“

In Deutschland war in Niedersachsen am vergangen Wochenende auch eine Wahl. Die FDP hat so viele Leihstimmen von der CDU bekommen, dass sie bei 10% gelandet ist. Bei den Umfragen vorher hatten sie kaum 5%. Philipp Rösler war sehr umstritten und sollte gehen. Der Wähler aber wollte Schwarz-Gelb auf Umwegen wählen, wohl weil es keinen Grund mehr gibt, der FDP direkt eine Stimme zu geben. Sie steht für wirklich gar nichts mehr. Aber es hat nicht funktioniert. Rot-Grün regiert mit einer Stimme Mehrheit.

Und Astrid, meine Romanheldin? Sitzt immer noch im Pressecafé am Zoo Ende der Achtzigerjahre. Frisch aus Ostberlin gekommen. Heute ist im Pressecafé ein Burger King, und die Stimmung ist so trist, dass ich nicht einmal meinen Laptop aufklappen mag. Um sie und um mich also völlige Leere. Ich gehe los und suche ein Café und: „Assi, nächste Woche hol ich dich da raus!“